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Rheintal06.09.2023

Das Rheintal als «Zentrum Europas»

Das Rheintal gehört auf beiden Seiten des Rheins zu den exportorientiertesten Regionen Europas. Dieses «Precision Valley» hat sich zu einem der innovativsten Hightech-Standorte entwickelt – und dennoch hat es in breiten Kreisen das Image einer eher unbekannten und wenig attraktiven Transitregion.

 

Das Rheintal war und ist eine Grenzregion mit all ihren Vor- und Nachteilen. Einst ein von regelmässigen Überschwemmungen gezeichnetes Armental, hat es erst nach der Einführung der Eisenbahn und der Rheinregulierung einen wirtschaftlichen Aufschwung erlebt. Dies ist einer guten Mischung von einheimischen und «importierten» Unternehmerpersönlichkeiten zu verdanken – wie zum Beispiel Heinrich Wild, der 1921 von Jena her kam. Diese Gründer wiederum konnten auf Mitarbeiter zählen mit der richtigen «DNA». Der Rheintaler ist charakterisiert durch Präzision, Zuverlässigkeit und internationale Orientierung.

 

 

«Schiffbarmachung des Rheins von Basel bis Rheineck»
Lange blieb die Textilindustrie die beschäftigungsstärkste Branche im Rheintal. Die Industrielandschaft veränderte sich nur langsam, und 1950 waren Wild und Viscose mit je rund 1000 Beschäftigten die beiden grössten Arbeitgeber des St.Galler Rheintals. Aus heutiger Sicht mag es merkwürdig erscheinen, aber im Jahre 1952 setzte sich diese Vereinigung auch aktiv für das Thema «Schiffbarmachung des Rheins von Basel bis Rheineck» ein. Damals gab es konkrete Pläne für eine Umschiffung des Rheinfalls mittels Hebewerk und Schiffstunnel.

 

Eine bessere Verkehrserschliessung war immer und ist auch heute noch ein immer wiederkehrendes Thema des heutigen «Arbeitgeberverband Rheintal AGV», eine Vereinigung von über 500 Firmen in der hoch-industrialisierten Region zwischen Rüthi und Thal.

 

Im Februar 1946 kommt mit Dr. Ludwig Bertele der wohl bedeutendste Optik-Konstrukteur seiner Zeit – der Spezialist für die Berechnungen von Fotoobjektiven der Firma Zeiss-Ikon in Dresden – zu Wild nach Heerbrugg. Dieses Ereignis hat auch symbolischen Charakter, denn im Rheintal entwickelt sich eine Industrieregion, die immer mehr hochspezialisierte und gut ausgebildete Fachkräfte benötigt.

 

 

Technikum, Kanti, internationale Schule
Einige visionäre Exponenten aus Wirtschaft und Politik des Rheintals entwickelten in den 1960er-Jahren die Idee, in Buchs ein Technikum für die Ausbildung von Ingenieuren zu schaffen. 1970 wurde der Studienbetrieb am Neu-Technikum Buchs aufgenommen. Schnell wurde die NTB in der Ostschweiz und im benachbarten Ausland zur wichtigsten Bildungs- und Forschungsstätte für Ingenieure. Was vor 50 Jahren Auslöser für die Gründung der NTB war, ist bis heute Treiber der Interstaatlichen Hochschule für Technik NTB – wie die Schule seit 2000 heisst – geblieben: Das existenzielle Interesse der lokalen Industrie an gut ausgebildeten Ingenieuren zu befriedigen.

1975 schliesslich nahm die Kantonsschule Heerbrugg ihren Betrieb auf. Zuvor war eine intensive Diskussion über den Standort im Rheintal erfolgt. Nicht zuletzt der wirtschaftliche Schwerpunkt im Unterrheintal gab schliesslich den entscheidenden Impuls für Heerbrugg: «Der richtige Standort der Schule muss vorerst unabhängig von angebotenen Bauplätzen gewählt werden. Ausschlaggebend dürfen auch nicht lokale Wünsche sein. Massgebend muss sein, mit welchem Standort heute und in Zukunft die grösstmögliche Zahl begabter Schüler erfasst werden kann. Dieser schulische und soziale Gesichtspunkt ist daher bei der Standortwahl entscheidend», sagte 1968 der Regierungsrat von St.Gallen dazu.

 

Als abschliessender Farbtupfer der Bildungslandschaft im Rheintal sei hier die ISR – International School Rheintal in Buchs zu nennen. Sie eröffnete im August 2002, baute per 2023 neu und bietet speziell ein Angebot für die Kinder ausländischer Mitarbeiter unserer exportorientierten Unternehmen.

 

Hightech-Cluster ohne Grenzen
Im Rheintal ist über die Grenzen hinweg ein Hightech-Cluster entstanden. Gemäss einer Erhebung der EU zählt die Region zu den wettbewerbsfähigsten in ganz Europa. Damit dieser Trend nicht abbricht, haben alle drei Länder kräftig in die Bildung investiert und anwendungsorientierte Hochschulen gegründet oder aufgewertet. Neben der erwähnten NTB entwickelt sich die Fachhochschule Vorarlberg in Dornbirn in den Bereichen Wirtschaft, Technik, Gestaltung und Soziales mit rund 1200 Studenten in Bachelor- und Masterstudiengängen. Schliesslich ist auch die aus der Fachhochschule Liechtenstein entstandene Universität zu nennen, die die Region mit Abgänger in Gebieten von Architektur, über Betriebs- und Wirtschaftslehre bis zu «Banking and Financial Management» versorgt.

 

2013 wurde von den Trägern Fürstentum Liechtenstein und Kanton St.Gallen das RhySearch, das Forschungs- und Innovationszentrum Rheintal in Buchs, gegründet. RhySearch soll Unternehmen im Rheintal mit Forschungsinstitutionen in der Schweiz und in Liechtenstein vernetzen. Insbesondere KMU soll der Zugang zu Forschungsinstitutionen erleichtert werden, da oftmals auch in diesen Belangen das Rheintal etwas «weit weg vom Schuss» ist.

 

Vom Rheintal in die ganze Welt
Einige weltbekannte Unternehmen sind im Rheintal beheimatet wie Leica Geosystems, Hilti, Liebherr, Doppelmayr, aber auch viele sogenannte «Hidden Champions», die in einer Hightech-Nische Weltmarktführer sind. Wer weiss etwa, dass Miniaturschrauben von SFS Heerbrugg in jedem iPhone verschraubt sind, dass VAT in Haag Weltmarktführer in Vakuumventilen für die Halbleiterindustrie ist, dass in vielen IKEA-Möbeln Beschläge von Blum in Höchst montiert werden oder die Firma Alpla – vormals «Alpenplastik Lehner.

 

Alwin OHG» – in Hard im Bereich der Kunststoffverpackung als internationaler Technologieführer gilt? Und schliesslich: Das gesamte Red Bull für den amerikanischen Markt wird in Widnau bei der Rauch Trading AG produziert und abgefüllt – «veredelt» mit Widnauer Grundwasser. Mittlerweile sind das geschätzte 3,5 Milliarden Dosen pro Jahr.

Seit 2015 werden die Aluminiumdosen direkt daneben von der Firma Rexam PLC in einem neu gebauten Werk produziert. Werden das St.Galler Rheintal, Liechtenstein und Vorarlberg sowie die Regionen Sarganserland-Werdenberg und Rorschach zusammengezählt, so werden jährlich aus dem Rheintal Güter im Wert von gegen 20 Milliarden Franken ins Ausland exportiert. Das ist fast so viel, wie der Kanton Zürich jährlich an Ausfuhren tätigt.

 

Präzision ist aber nicht nur im Kleinen gefragt. Im Rheintal finden sich auch ein paar Unternehmen, die ganz Grosses erzeugen. So betreibt der Liebherr-Konzern in Nenzing ein Werk für die Herstellung von Baumaschinen und maritime Kräne. Wer würde auf der Fahrt auf der Walgauautobahn Richtung Arlberg auf der rechten Seite plötzlich eine Herde hochgewachsener Hafenkräne erwarten? Zu den «Grossen» gehören aber auch die Firma Doppelmayr in Wolfurt, Weltmarktführer im Bereich Seilbahnen, oder die Künz GmbH in Hard, eine Marktführerin in Containerkrananlagen. Schliesslich sei aber auch die Menzi Muck AG in Kriessern mit ihren hochgebirgstauglichen Baggern zu nennen.

 

«Befruchtungen» von aussen

Die Industrie im Rheintal erhielt immer wieder innovative «Befruchtungen» von aussen. Karl Völker, Heinrich Wild, Josef Jansen und Hans Liebherr sind Beispiele dafür. Andererseits gab es immer auch genügend initiativen und unternehmerischen «Eigenwuchs» wie Jacob Schmidheiny, Hans Huber (SFS), Julius Blum, Martin und Eugen Hilti. Das Rheintal ist eine Grenzregion mit allen Vor- und Nachteilen. Es ist eine ihrer grossen Herausforderungen, die Zukunft so erfolgreich zu gestalten wie die Vergangenheit.

 

«Wir haben eine Vision. Wir müssen – um langfristig in Europa bestehen zu können – über den Rhein zusammenwachsen. Jeder für sich ist zu klein. Europa misst ihre Räume mit einer halben bis zu einer ganzen Million Einwohner», sagte 2007 der damalige AGV-Präsident Andreas Frank bezüglich grenzüberschreitender Zusammenarbeit. Dieses Thema ist nach wie vor hochaktuell. In gewissen Bereichen funktioniert diese Zusammenarbeit über den Rhein völlig grenzenlos und in anderen ist der Rhein eine unendlich tiefe Grenze. In optischen Grössen könnte man den Rhein also von «verlustfrei vergütet» (vollständig durchlässig) bis zu «100 Prozent verspiegelt» bezeichnen.

 

Das Rheintal als Zentrum Europas, «auf halbem Weg» zwischen den Metropolen Mailand, München, Stuttgart, Wien und Zürich mit hoher Lebensqualität und attraktivsten Arbeits- und Ausbildungsangeboten – das wär doch was?

 

Text: Fokus Rheintal LEADER, Eugen Voit

Bild: Thomas Hary

Heerbrugg um 1958 mit Wild-Areal
Bild: Eugen Voit