Marcel Gisler

Aufgewachsen in Altstätten im Rheintal, waren Filme für mich schon früh eine geistige Erweiterung in die Welt hinaus. Sie waren mir Fenster zu fremden Milieus, Gedanken und Lebenswelten. Die emotionale Unmittelbarkeit des Mediums faszinierte mich und der Berufswunsch selber Filme zu drehen, hatte sich bei mir bereits mit 19 Jahren gefestigt. Nur wusste ich nicht genau wie ich es angehen sollte.

 

Nach zwei erfolglosen Aufnahmeprüfungen an Filmhochschulen und dem Umzug nach Berlin mit 21, beschloss ich, es auf eigene Faust zu versuchen. Mit einer filmbegeisterten Truppe von Berliner Freunden zusammen arbeiteten wir workshopartig im Stil des «cinéma copain» an verschiedenen Kleinprojekten. Es war ein learning by doing, ähnlich wie an einer Filmschule. Aus diesen ersten cinématographischen Gehversuchen entstand gleichsam wie aus einem Ideenlabor heraus 1985 mein erster langer Spielfilm «Tagediebe», der in Locarno den silbernen Leoparden gewann.

 

Damit hatte ich mit 25 einen Fuss in der Tür, verdiente aber noch lange kein Geld mit der Filmerei. Doch «Tagediebe» ermöglichte mir meine ersten Flugreisen und Teilnahmen an Festivals, wie zum Beispiel am «New Directors» Festival im MOMA (Museum of Modern Art) in New York. Vor allem jedoch überzeugte der Film Menschen an wichtigen Hebelstellen der Branche, mich weiterhin zu unterstützen. Durch ihre aktive Förderung konnte ich die nächsten Spielfilme drehen und präsentieren, «Schlaflose Nächte» (1988, Bronzener Leopard, Locarno), «Die Blaue Stunde» (1992, Max Ophüls Preis, Saarbrücken: Bester Spielfilm, Bester Nachwuchsdarsteller), «F. est un salaud» (1997, Schweizer Filmpreis: Bester Spielfilm).

Inzwischen konnte ich von der Filmerei leben, mein Ruf hatte sich gefestigt, und auch selber wagte ich mich ohne innere Vorbehalte Filmregisseur zu nennen. Doch dann zwang mich eine gesundheitliche Krise zu einer längeren Pause. Da ich in jener Zeit nicht die Kraft für eigene Projekte hatte, beschloss ich als Drehbuchautor für die Schweizer Fernsehserie Lüthi & Blanc zu arbeiten. Bis zur Absetzung der Serie 2007 verfasste ich die Drehbücher für 34 Episoden.

 

2012 war dann endlich wieder ein eigener Spielfilm finanziert, «Rosie». Den autobio-graphisch gefärbten Film konnte ich mit der grosszügigen Unterstützung der Altstätter Stadtverwaltung in Altstätten und Umgebung drehen. «Rosie» wurde sechsmal für den Schweizer Filmpreis nominiert, die Hauptdarstellerin Sibylle Brunner gewann ihn als beste weibliche Hauptdarstellerin. Es folgte der Dokumentarfilm «Electroboy» (2014, Schweizer Filmpreis: Bester Dokumentarfilm), «Mario» (2018, Schweizer Filmpreise: Bester Hauptdarsteller Max Hubacher, Beste Nebendarstellerin Jessy Moravec). 2019 drehte ich zum ersten Mal einen reinen Fernsehspielfilm, «Aus dem Schatten» mit Anna Schinz und Stefan Kurt.

 

Während die ersten Filme in Berlin stark vom Drang nach Selbstdarstellung geprägt waren, vom Bestreben, eine junge städtische Generation zu porträtieren, rückte später zunehmend das sozialpolitische Interesse ins Zentrum meiner Arbeit. Die Sichtbarmachung von Minderheiten und Randfiguren, das Thematisieren von Diversität und von gesellschaftlichen Tabus.

Das Eigenartige an der Filmerei bleibt, dass trotz wachsender Erfahrung und Trophäen-sammlung, jeder neue Filme immer wieder dieselbe Herausforderung bedeutet wie beim ersten Mal. Dass er dasselbe Selbstvertrauen erfordert, dieselbe Überzeugungskraft und Resilienz. Jeder Film bedeutet, künstlerisches Neuland zu betreten, mit all den Unwägbarkeiten, Ängsten und Hoffnungen. Die Möglichkeit des Scheiterns ist steter Wegbegleiter. Und dennoch, oder vielleicht gerade deswegen bleibt es für mich der tollste Beruf der Welt.